Dmitry Pokrovsky ist tot.

Ich habe diese Seite im Gedenken an unseren Freund Dmitry Pokrovsky, der am 29. Juni 1996 in Moskau im Alter von 52 Jahren starb, geschrieben.

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CD Cover: Faces of Russia
Dmitry Pokrovsky war Gründer und Leiter des 'Pokrovsky Ensembles', das er als 'Werkstatt' zur Erhaltung der russischen echten Volksmusik sah. Er studierte ursprünglich Musik am Moskauer Gnessin Institut und kam auf einer Studienreise in Kontakt mit der unverfälschten Volksmusik Rußlands, deren Gefährdung er sofort erkannte.

Die stalinistische Politik der Kollektivierung hatte die alten Lebensformen der Dörfer zerstört und mit ihnen auch die Musik. An ihre Stelle traten die Balalaika - und Hüpf - Ensembles, die dem Volk eine Musik vorgaukelten, die nie die seine gewesen war.
Pokrovski sah, daß die wirkliche Musik am Verschwinden war, nur noch alte Menschen sangen die alten Lieder und so gründete er ein Ensemble und reiste mit den Mitgliedern lange durch die russischen Dörfer, lebte mit den Menschen und sammelte ihre Lieder und Tänze. Während ihrer langen Reisen studierten sie die Musik- und die Lebensformen und erarbeiteten ein immenses Repertoire.
Sein Haupt-Forschungsgebiet war Zentralrußland zwischen Don und Dnjepr, südlich von Moskau, nördlich der Ukraine.

In der Breshnew-Ära konnten sie nur selten öffentlich auftreten, erst seit der Perestrojka waren Tourneen und Konzerte in größerem Rahmen möglich. So wurde ihm auch der Gobartchew Award für seine Verdienste um die russische Kultur verliehen. Pokrovsky lebte einige Jahre in den USA, kam aber immer regelmäßig nach Rußland zurück.

CD Cover

Dmitry Pokrovsky lehrte auch an der Akademie INTERSTUDIO in Puschkin und nahm mit seinem Ensemble 1993 am dortigen Festival KUKART I teil.


Ein Lied von der CD:
Gesichter Rußlands

Mädchen beim Spaziergang

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Ich hatte im Herbst 1993 das Glück, sein erstes öffentliches Konzert nach mehr als 5 Jahren im Moskauer Tschaikowski-Saal miterleben zu können. Nach 2 Sets verließ das Ensemble die Bühne und zog durch das Publikum ins Foyer, wo Künstler und Publikum zusammen weitersangen. Nach dem Konzert tanzten und sangen die Menschen auch in der Metro-Station, die langen Rolltreppen hinunter und die langen Bahnsteige entlang.


In einem 1984 erschienen Buch ist ein Brief wiedergegeben, der einen ihrer Auftritte beschrieb und aus dem ich hier zitieren möchte:

Außerdem haben wir Euch ('in Gedanken', C. Müller-Gödecke) in ein Konzert mitgenommen, das in einer neuen Konzerthalle in einem Neubauviertel im Südwesten Moskaus gegeben wurde (weit zu fahren). Meine alten Freundinnen aus der Studentenzeit waren auch alle gekommen. Es war eine außergewöhnliche Veranstaltung, schon lange haben wir so etwas nicht mehr gehört und gesehen, vielleicht noch nie. Es trat eine Folklore-Gruppe auf, junge Musiker, Sänger und Tänzer, die im ganzen Lande umherreisen und alte russische Lieder sammeln: Rituelles, Scherzlieder, Volkstänze, die sie nicht stilisieren, sondern in der ursprünglichen, traditionellen Weise singen und spielen. Das Konzert endete sehr originell (für unsere Begriffe, die wir nicht an spontane öffentliche Darbietungen gewöhnt sind): die Sänger und Tänzer sprangen von der Bühne, wirbelten durch den Saal und zogen die Zuschauer mit sich (wie Euer Rattenfänger von Hameln), hinaus ins Foyer, wo sie einen Reigentanz begannen, immer mehr Zuschauer zum Mittanzen animierend, bis schließlich alle tanzten. Es hätte nicht viel gefehlt, und ich hätte mich mit meinen morschen Knochen auch ins Getümmel gestürzt. Dir und Natascha hätte es gefallen. Man sagt, daß die Gruppe im Sommer auch auf den Straßen singt und tanzt. In unseren Breiten ist das sehr außergewöhnlich (in den Städten, auf dem Land nicht).

aus: Nadja, Briefe aus Rußland. Übersetzt, herausgegeben und eingeleitet von Natascha Wodin, Nishen Verlag Kreuzberg 1984.

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Dmitry Pokrovski hatte einen sehr eigenen Humor. So liebte er es, bei Auftritten mit ihm befreundete Jazz-Musiker, so sie anwesend waren, auf die Bühne zu nötigen und sie zu Improvisationen zusammen mit seinem Ensemble aufzufordern. Nicht nur die Mitglieder des damaligen Ganelin-Quartetts können ein Lied davon singen, wie schwer es ist, sich in diese Musik mit ihren vielfältigen Scalen und Rhythmen hineinzufinden.

Als im Herbst 1993 die politische Lage in Moskau undurchsichtig wurde und das Weiße Haus besetzt war von rebellierenden Putschisten, rief Dmitry seine Freundin in den USA an und bat sie, nicht nach Moskau zu kommen: "Vielleicht haben wir Bürgerkrieg hier, komm besser nicht, aber wenn du kommst, bring mir AfterShave mit! "


Das Ensemble hat einige Tourneen im Westeuropa und in den USA unternommen. So waren sie auf WOMAD-Tourneen dabei und traten unter anderem in Hamburg und beim Stimmen-Festival in Lörrach auf. Es sind auch CD's bei uns erschienen:
1) Gesichter Rußlands - Faces of Russia
Trikont, München 1991

Mädchen beim Spaziergang

1) The Wild Field
Real World Records, 1991

2) Les Noces - The Wedding (Igor Strawinsky)
and Russian Village Songs Elektra Nonesuch, 1994

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Zu der letzt aufgeführten CD möchte ich noch eine Rezension beisteuern, die ich 1994 für die JazzThetik geschrieben habe:
Igor Strawinski schöpfte aus dem Vorrat der russischen Volks-Musik und war doch von neuen Technologien fasziniert, wollte mechanische Musik schreiben. Dmitry Pokrovski studierte Musik und Kompositionslehre und wandte sich dann der Volks-Musik zu.
70 Jahre nach dem Erscheinen von Strawinskis, in Frankreich geschriebener Balletmusik LES NOCES legt das Moskauer Dmitry Pokrovski Ensemble nun eine atemberaubende Version vor. Mußte Strawinski sich noch mit 4, perkussiv eingesetzten, Flügeln begnügen, weil er die mechanische Instrumente nicht mit den akustischen synchronisieren konnte, so nutzt Pokrovski jetzt den Computer und erreicht damit die gewünschte Präzision.
Weit interessanter ist jedoch wie Pokrovski den Emigranten Strawinski 'posthum' repatriiert: Seit vielen Jahren erforscht er mit seinem Ensemble, anfangs, in der Vor-Perestroijka-Zeit noch inoffiziell, die fast verlorene, weil seit Stalin unterdrückte russische Volks-Musik und interpretiert sie mit meisterhafter Technik, atemnehmenden Tempi und Stimmfülle.
Und nun reiht er Strawinskis Werk nahtlos in eine Sammlung russischer Hochzeitslieder ein; ohne klassisches Vibrato und Schmelz, mit Stimmen, so scharf wie Messer, rettet das Ensemble LES NOCES aus dem europäischen Bühnenstaub. So hat sich das Strawinski gedacht.

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Diese Seite wurde am 14. November 1996 hochgeladen. Sie erreichen mich, Cornelie Müller-Gödecke, unter folgender Adresse: mailtocmg@avantart.com
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