Davaj! Aus dem Laboratorium der freien Künste in Russland

Vom 10.1.2002 - 27.2.2002 präsentierten die Berliner Festspiele und das MAK im Postfuhramt Berlin ein gemeinsames Kunstprojekt.

Aus der Vorstellung: Am Beginn des 21. Jahrhunderts entwickelt sich in Russland eine neue, radikale Kunstszene. Sie blickt nicht mehr nach Westen. Sie wehrt sich gegen die vom westlichen Kunstmarkt in den letzten Jahren vorgenommene Vereinnahmung russischer Künstler, gegen die Interpretation russischer Befindlichkeiten durch westliche Kuratoren und Kritiker, gegen die Stigmatisierung als "Künstler der Dritten Welt."
...Unbelastet von der alten Ideologie und metaphysischen Obsessionen entwickeln Künstler in ehemaligen Kulturhäusern der Sowjetunion neue radikale Strategien, mit ausgeprägtem Hang zu Selbstinszenierung, Performance, Neuen Medien...
nun gut, das ist das Offizielle, aber was war wirklich?

Davaj! Aufmerksamkeit ist erreicht worden, kokettiert wurde mit dem Vorurteil gegenüber Russen, und die Ironie, die so wichtig ist in diesem Land, die eines der konstituierenden Merkmale der russischen zeitgenössischen (und nicht nur dieser) Kunst ist, wurde mal wieder nicht bemerkt.

Siehe das Plakat:
Leseweise west: ein Bomshi, ein verlumpter Obdachloser, glücklich strahlend ob des vermeintlichen Wodka-Genusses???

Leseweise ost: aber sicherlich freut er sich, ganz gefangen in der Mobile-Manie, über eine zustandegekommene Verbindung???

Die wenigsten westlichen Betrachter werden das Handy bemerkt haben und die Ironie, denn Ironie wird fast nie verstanden...

NeuRusse Und wieder wird von den Veranstaltern und Organisatoren ein Gegensatz konstruiert zu den "Inoffiziellen Künstlern" der späten Breshnjew-Zeit, die vor 12, 14 Jahren im Westen so gut angekommen sind und inzwischen bis auf Kabakov, Komar und Melamid und einige andere, wieder nicht mehr wahrgenommen werden, aber doch immer herhalten müssen, wenn von russischer zeitgenössischer Kunst die Rede ist. Das ist natürlich auch ein Generationenproblem.

Aber das größere Problem ist wohl, und das wird nicht gesehen, daß diese "russischen Inoffiziellen" bis auf wenige Ausnahmen (Prigov z.B.) keine Rolle spielen gegenwärtig, in der russischen zeitgenössischen Kunst. Der Gegensatz, so wie hier postuliert, mißt junge Künstlern an einer Meßlatte, die sie gar nicht kennen.
Die jungen, hier gezeigten Künstler setzen sich ab gegen diese angeblichen "Überväter", aber was ist ihnen gemein?

Es wird auch ein Gegensatz konstruiert zu dem angeblichen Stigma, russische Künstler seien "Künstler aus der dritten Welt", ein nun wirklich unreflektiertes Konstruieren von Gegensätzen. Schlechte Allgemeinbildung, vergessener Geschichtsunterricht und nicht verstandene Gegenwartskunde?? Oder der verzweifelte Versuch der Kuratoren, angesichts der Vielfalt und der großen Qualitätsunterschiede, die sich bei einem solchen Unternehmen (junge Kunst von SPB bis Vladivostok) nun garantiert auftun, ein gemeinsames Motto zu finden, doch eine Überschrift zimmern zu können???


Zutreffend ist wohl,

  • daß viele der hier vorgestellten Künstler mit Klischees spielen und diese bedienen (betrunkene Männer in der Provinz, die mit Politikermasken posieren), Zitate aus der Volkskunst etc.

  • daß auch von vielen jungen russischen Künstlern vermeintlich notwendiger Tabubruch mit der Exposition männlicher Genitalien gleichgesetzt wird

  • daß mit den Mal-Traditionen kokettiert wird, nun sind halt die "Neuen Russen" die Auftraggeber, nicht mehr der Zar oder das ZK. Der Kapitalismus rückt an die Stelle der Heldenverherrlichung, Konsum ist der neue Götze, und die Gefahr ist groß der Attraktion des Konsums nicht zu erliegen. Wo ist die Grenze zwischen ironischen Zitaten und Werbe-Plakaten? Wer liest die Ironie?

  • daß viele von der Technik fasziniert sind, ihnen aber die Mittel für ein brauchbares Equipment fehlen (siehe die vielen, vielen Videos: immer wieder überkopiert, schlechte VHS-Qualität, und die Faszination des "einfach draufhaltens"...)
    Statt der Kamera-Fahrt im Auto durch Jerusalem (letzte Dokumenta) nun eben eine Fahrt mit der TransSib durch die Wälder des Ural, wobei ich zugeben muß, daß ich bei diesem Blick aus dem Fenster doch sentimal wurde ;=(




TransSib

Wo es nichts zum Nachplappern gibt, fehlt auch die Wahrnehmung - das ist mein Resumé dieser Ausstellung, denn

die Fabrik gefundener Kleider mit den zwei Installationen "Vera" und "Liebe und Krieg" wurde nach meiner Beobachtung überhaupt nicht verstanden
die großartige Installation Reisebüro Escape fand in der Presse nur die Bewertung "antiwestlich" und das ist grottenfalsch.
So schreibt der Berliner Tagesspiegel:

Eine sarkastische Persiflage auf Kunst und Kapitalismus bietet die Moskauer Gruppe "Escape" mit ihrem Reisebüro. Für viel Geld (Dollars, versteht sich) kann sich der gelangweilte Westler durch die Peripherien Moskaus führen lassen oder die einfachen Freuden des Dorflebens genießen. Der hohe Preis und schon die herablassenden Werbebroschüren sollen auf die Besucher wie ein Ablass für ihre Privilegierung wirken. Antiwestliches Ressentiment schlägt unverhohlen durch, das Lachen bleibt einem im Halse stecken.

Elena KovylinaElena Kovylina's Performance-Video Walzer ist die perfekte Umsetzung einer gegenwärtigen Stimmung:
man kann alles kaufen,
wer gekauft wird, verausgabt sich (auf russische Weise) bis zum Zusammenbruch
aber der Gekaufte diktiert auch die Regeln.

Leider nahm sich niemand die Zeit, das Video vollständig anzusehen und zu verstehen

Nach all diesen Mißverständnissen nun meine Ansichten:

die melancholische Seele soll das Besondere des russischen Nationalcharackters ausmachen und damit auch das Spezielle russischer Künstler - ein immer wieder mantrahaft wiederholtes (Vor-)-Urteil. Dem aufmerksamen Beobachter zeigt sich aber ein anderer Charakterzug:

eine sehr präzise Wahrnehmung der Realität gepaart mit Ironie, rücksichtslos gegen Andere und gegen sich selbst.

Aber dies wurde in Europa, im Westen, nie wahrgenommen.

Deshalb kann es auch zu so grotesken Fehlurteilen (Berliner Tagesspiegel) kommen, deshalb wird Strawinskij immer nur als Komponist des Erhabenen und nicht des Grotesken gehört, deshalb wird Saltykow-Schtschedrin nicht als Dichter der Satire, sondern als Dichter tragischer Adels-Schicksale gesehen, wenn überhaupt.
Ein Mißverständnis, das durch die Jahrhunderte geht.

Natürlich haben die Mitglieder der Gruppe Escape den Westen genau beobachtet und natürlich kennen Sie die kleinen Schwächen (Entdecke den Puschkin in dir selbst) unserer Zeitgenossen, aber vor allem zeugt ihr Projekt "Touristik Agentur Escape / Kuenstlerische Touren fuer kuenstlerische Natur" von einer sehr genauen Beobachtung und Vermischung unterschiedlichster Aspekte zu einem Gesamtkunstwerk. Es sind nicht die Verführbarkeiten und Schwächen fiktiver (westlicher) Touristen, die hier zusammengewebt sind.

Sie zeigen in selbst-ironischer Manier ein komplexes Gewebe aus russischer Kultur - neuem Kapitalismus - Spiritualität : mit ihren Worten:

Der Vergleich des Museumsbesuchers mit Touristen ist nicht zufaellig.Tourist ist in seiner Art Liebhaber der Kunst, Mensch, der beobachten kann und mag. Er trit in der Rolle virtuellen Kuenstlers auf, macht Kunst in seiner Einbildung und gleichzeitig bewundert sein Werk. Tourist kommt an bestimmten Ort und fasst unbewusst ein Stueck Waldes, im Wasser wiederspiegelte Wolken, Platz mit Denkmal neben Schloss, Strassenepisode ein. Tourist schafft Museum in seinem Gedaechtnis aus angeschauten "Kunstwerken".

Aber es gibt auch Unterschied zwischen Kunstliebhaber und Touristen. Der erste schaetzt fremden Blick (Kuenstlersblick), der zweite nur den eigenen.

Vor 100 Jahren bestimmte Lew Tolstoj : "Kuenstler ist Mensch, der alles schildern kann". Wie weit sind diese Worte von heutigem Tag. Und trotzdem in jeder Epoche und unter jedem Stil bleibt etwas, was Kuenstler vom einfachen Sterbemenschen unterscheidet.

Heute, wenn Kunst sich selbst in Frage stellt und Representation der schaerfsten Kritik untezogen wird, steht vor dem Kuenstler seine ewige Aufgabe-Reise in Zone des Realen zu veranstalten. Und wenn es gestern in Edenhainen von Duerer oder in Bacchanalien von Rubens verdeckt wurde, so kann man es heute in alten Schuhen von Van Gogh oder in Auffuehrung der farbenreichen Flecken von Maserwell.

Moderne Kunst ist nichts anderes als Touristikagentur, die dem Kunde Treffen mit Realem verspricht, und Kuenstler sind Fuehrer, die unter Treunhandschaft Stehenden bis zum richtigen Ort begleiten. Ausserdem sprechen wir vom Touristen, der ueber Einbildung, Abenteuerlust und Entdeckungslust verfuegt. Noch mehr, der richtige Tourist, der Kunde von Escape, Agentur, ist der, der selbst Geschichten ausdenken, graue Alltagswirklichkeit bemalen, erstaunen und ans Unmoegliche glauben kann…

Dies alles, gepaart mit Videos, die Performances wiedergeben, mit Reisebüro-Prospekten, mit Visitenkarten, Plakaten - eine großartige Arbeit.

Lisa Morosowa, die in Carskoe Selo an der Theater-Akademie Interstudio studierte und inzwischen über die Kunst der Performance promovierte, ist eine vielseitige Reiseführerin, die die vielen Facetten der künstlerischen Existenz im Zarendorf wie ihre Westentasche kennt, Bogdan Mamonov nimmt uns mit aufs Land, Valerij Ajsenberg zeigt uns New York, Anton Litwin führt uns in Moskau ein.

Wenn man doch nur diese Exkursionen buchen könnte, es gäbe viel zu lernen und zu erfahren!

Aber vielleicht reicht auch erstmal ein Link auf http://www.escapeprogram.ru/

Da, wo ueblicher Tourist sich in seine Karte vertieft vorbeigeht, entdecken Sie solche Realitaetsgrenzen, von denen unerfahrene Leute nicht ahnen. Wahre Realitaet koennen fuer Sie nur Kuenstler entdecken.



Avantart's URL: http://www.avantart.com