Abendbetrachtung über die Größe Gottes
Aus Anlaß eines großen Nordlichtes

Der Tag vollendet seinen Lauf,
Im Westen sinkt der Sonne Pracht.
Am Berghang steigen Schatten auf,
Schon deckt die Felder finstre Nacht.
Unzähl'ge Sterne tun mir kund
Den Himmel: Abgrund ohne Grund.

Ein Sandkorn in der Meeresflut,
Ein Funke, der im Eismeer schwirrt,
Ein Flaum in wilden Feuers Glut,
Ein Staub, der aufgewirbelt wird:
Ein solches Nichts ist auch mein Ich,
Im Weltenall verliert es sich.

Es kündet uns der Weisen Wort:
Dort gibt es Welten mannigfalt,
Unzählig brennen Sonnen dort,
Auch dort blühn Völker, werden alt:
Sich selbst stets gleich ist die Natur,
Denn es gibt eine Gottheit nur.


Doch dem Naturgesetz spricht Hohn
Das Licht, das ich im Norden seh'.
Steht dort denn jetzt der Sonne Thron
Im Nordmeer, zwischen Eis und Schnee?
Zur Mitternacht hüllt Tagesschein
Mit kaltem Glanz die Erde ein.

O ihr, die ihr mit raschem Blick
Der Dinge tiefsten Kern gewahrt,
Und denen schon das kleinste Stück
den Bau des Ganzen offenbart -
Ihr kennet der Planeten Lauf,
So löst auch dieses Rätsel auf!

Wodurch entsteht bei Nacht dies Licht?
Wer schlägt's empor zum Firmament?
Wie kommt's, daß ohne Wolkenschicht
Des Blitzes Flamme dort entbrennt?
Gebiert der Elemente Kampf
Denn Feuer aus gefrornem Dampf?

Liegt schwer dort Nebel übern Meer?
Bricht sich der Sonne Licht im Dunst
Der Athmosphäre um uns her?
Tobt dort auf Bergen Feuersbrunst?
Schlägt, weil der Zephyr ging zur Ruh,
Der Wellen Strom den Äther zu?

Ihr wißt nicht, wie ihr deuten sollt,
Was nah der Erde dort geschieht!
Wie wird's, wenn ihr erklären wollt,
Was keines Menschen Auge sieht?
Der Gottes Schöpfung nicht ermißt -
Weiß er, wie groß der Schöpfer ist?

Michail Lomonossow, 1743
In der Übersetzung von Ludolf Müller